Zeitarbeiter
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Meine erste Zeitarbeit
Die Zeitarbeitsfirma – ein Selbstbedienungsladen
Zeitarbeit: hire and fire
Zeitarbeiter: immer professionell und flexibel!
Tarifverträge, Willkür und Zwang zum Lügen
Zeitarbeiter unterlaufen ihren eigenen Schutz
Noch mehr Willkür statt "Equal Pay"
Zeitarbeiter werden ausgegrenzt
Endlich voll bezahlter Mitarbeiter
Bilanz Zeitarbeit: einen Porsche verschenkt!

Meine erste Zeitarbeit

Wenn ich für eine Sache kein Talent habe, dann ist das Feilschen und Verhandeln. Deshalb fühlte ich mich nicht gerade behaglich, als ich Herrn Winterberg (Name geändert) gegenüber saß, meinem zukünftigen Chef, einem Mann vom Typ "Gebrauchtwagenhändler". Und trotzdem war ich der glücklichste Mensch der Welt: nach 18 Monaten Arbeitslosigkeit nicht nur wieder Arbeit, sondern sogar den absoluten Traumjob in Aussicht!
So viel Glück konnte es eigentlich gar nicht geben. Ich war gerade noch früh genug arbeitslos geworden, um unter die alte Regel zu fallen, nach der mir aufgrund meines Alters und meiner Betriebszugehörigkeit 22 Monate Arbeitslosengeld zustanden. (Erst später wurde diese Zeit auf maximal 12 Monate begrenzt, und die hätten für mich nie gereicht, denn trotz zahlreicher Bewerbungen war dies erst mein zweites Vorstellungsgespräch.) Und dann auch noch ein Job in Finnland – mein absolutes Lieblingsland, in dem ich mehr als 20 Mal Urlaub gemacht hatte und in dessen Landessprache ich mich einigermaßen verständigen konnte. Ich kam mir vor, als hätte ich 6 Richtige mit Zusatzzahl getippt.
Zuvor hatten wir uns bei der Firma Areva in Offenbach getroffen, an die mich Herr Winterberg als Zeitarbeiter ausleihen wollte. Zwei kurze Gespräche mit relevanten Leuten machten alles klar. Ich hatte die passende Qualifikation und die passende Berufserfahrung, ich war genau der richtige Mann für den Job. Es ging darum, dass in Finnland ein großes Kernkraftwerk gebaut wurde – ein Thema, dem gegenüber ich eigentlich eher kritisch eingestellt bin, aber meine Arbeit betraf nur den massiven Stahlbeton, aus dem die Gebäude für Reaktor, Steuerung, Brennelemente etc. hergestellt werden sollten. Als ehemaliger Konstrukteur im Brückenbau kannte ich mich damit bestens aus.
Jetzt war nur noch der Arbeitsvertrag zu unterschreiben. "Sie hatten an 3000 Euro gedacht?" fragte Herr Winterberg. Ich bestätigte ich das. Er überlegte und fragte dann, ob ich auch mit 2800 zufrieden wäre. Das war immer noch deutlich mehr als das, was ein Bauingenieur damals erwarten konnte, deshalb erklärte ich mich einverstanden, und Herr Winterberg setzte diese Zahl in den Vertrag ein. Nach einer Weile fragte er, wie denn die Lebenshaltungskosten in Finnland wären. Ich sagte, die sind sehr hoch, z.B. wäre Finnland eines der teuersten Urlaubsländer. "Wissen Sie was", meinte Herr Winterberg dann, "ich gebe Ihnen 3000." Ich war beeindruckt: so einen großzügigen Chef hatte ich ja noch nie gehabt!
Wenige Wochen später zog ich nach Finnland um. Der Sommer 2006 brachte herrliches Wetter mit sich und erinnerte mich an meine Urlaubsreisen. Andere Kollegen hatten große Probleme, sich einzuleben, ich hingegen fühlte mich, als ob ich nach Hause gekommen wäre.
Die Arbeit war sehr interessant und machte großen Spaß, und darüber hinaus schrieb ich ein Programm, das bei der Organisation unserer Arbeit sehr hilfreich war. Meine Vorgesetzten waren überaus zufrieden mit mir.

Die Zeitarbeitsfirma – ein Selbstbedienungsladen

Nach etwa einem Jahr fragte mich unser Abteilungsleiter, ob ich nicht Lust hätte, von Areva direkt eingestellt zu werden, es würde sich auch finanziell für mich lohnen. Wenn ich wüsste, ließ er durchblicken, wie viel Herr Winterberg an mir verdient, würden mir die Tränen kommen. Ich zögerte ein wenig, weil ich Skrupel hatte, Herrn Winterberg so in den Rücken zu fallen, obwohl er mir nach so langer Arbeitslosigeit eine Chance gegeben hatte. Doch schließlich bekam ich ein konkretes Angebot: 1000 Euro mehr pro Monat! Das wischte alle Bedenken fort.
Ich teilte Herrn Winterberg mit, dass ich kündigen wollte. Warum? Weil Areva 1000 Euro mehr zahlt. "Die zahle ich Ihnen auch", entgegnete mein Chef. Äußerst verblüfft fragte ich, woher er denn das Geld dafür nehmen wolle. Areva würde ihm genug geben, antwortete er. Ach, so sieht das also aus, dachte ich bei mir, dann war es ja wohl keine Mühe gewesen, den Großzügigen zu spielen! "Dann hätten Sie mir die 1000 Euro doch von Anfang an geben können", warf ich ihm vor. "Wieso, Sie waren zufrieden, ich war zufrieden..." lautete seine Antwort. Von einem schlechten Gewissen nicht die geringste Spur.
Ich begann, das Prinzip "Zeitarbeit" bzw. "Arbeitnehmerüberlassung" zu verstehen. Man handelt mit dem Auftraggeber eine Summe aus, dann handelt man mit dem Zeitarbeiter ein Gehalt aus, und die Differenz verschwindet einfach in der eigenen Tasche, auch wenn man dafür kaum einen Finger krumm gemacht hat, denn das Geld hat ja eigentlich der Zeitarbeiter erarbeitet. Natürlich hat die Zeitarbeitsfirma ein gewisses Risiko, denn der Zeitarbeiter kann krank werden oder Urlaub machen, und dann muss sein Gehalt weiter gezahlt werden, während die Auftragsfirma nichts zahlt, da ja nicht konkret gearbeitet wird. Dennoch – in meinem Fall waren über 10.000 Euro einfach in seiner Tasche verschwunden, ganz legal.
Und nicht nur das. Wenn ein älterer Arbeitnehmer längere Zeit arbeitslos war, geht man davon aus, dass er einen größeren Aufwand benötigt, um wieder eingearbeitet zu werden. Da dies ein Grund sein kann, einen solchen Arbeitslosen abzulehnen, gibt es Zuschüsse vom Staat für den Arbeitgeber. Herr Winterberg kassierte noch einmal über 10.000 Euro Wiedereingliederungshilfe, weil er mich eingestellt hatte. An sich völlig korrekt – aber ich arbeitete ja nicht bei ihm in seinem Büro. Die Firma Areva war es eigentlich, die den höheren Aufwand mit der Einarbeitung hatte und somit auch die Zuschüsse verdient hätte. Alles in allem hatte Herr Winterberg also weit über 20.000 Euro eingesackt, ohne einen Finger dafür krumm gemacht zu haben. Eine Zeitarbeitsfirma zu gründen, ist offensichtlich eine äußerst lukrative Sache.
Dennoch rechnete ich hin und her, was für mich günstiger wäre: bei Herrn Winterberg zu bleiben oder zu Areva zu wechseln. Die Unterschiede lagen vor allem darin, dass Steuern und Sozialabgaben in Deutschland und Finnland so verschieden waren. Es erwies dann doch als etwas günstiger, bei Herrn Winterberg zu bleiben – aber nur, weil ich die Zukunft nicht vorhersehen konnte.

Zeitarbeit: hire and fire

Nach vier Jahren war meine Arbeit in Finnland beendet, und Herr Winterberg besorgte mir einen neuen Job bei Areva in Offenbach. Es ging dabei um Zeichnungen für Stahlbühnen in deutschen Kernkraftwerken, auf denen alle möglichen Maschinen installiert waren und die infolge verschärfter Sicherheitsbestimmungen verstärkt werden mussten. Ich zog also nach Offenbach um. Diese Arbeit machte ich etwa ein Jahr lang, dann geschah die Katastrophe in Fukushima. In der Folge wurden einige alte Kernkraftwerke abgeschaltet, und zwar ausgerechnet diejenigen, die wegen ihres Alters Arbeit für Areva brachten, und so fand ich mich umgehend auf der Straße wieder – was bei einer direkten Anstellung bei Areva sicherlich nicht der Fall gewesen wäre.
Aber nur wenige Wochen später hatte ich wieder Arbeit: die Zeitarbeitsfirma Heidbrink (Name geändert) lieh mich an die Firma Dexion aus, die Stahlbühnen für eine große Lagerhalle herstellte. Leider war Laubach, der Standort von Dexion, so weit von Offenbach entfernt, dass ich dort eine Zweitwohnung beziehen musste und Wochenendpendler wurde, was mit großen Umständen verbunden war.
Deshalb war ich froh, dass die Arbeit nach einem Jahr erledigt war, und ich teilte meine Freude auch unverblümt meinem Vorgesetzten mit. Der war wenig begeistert von meiner E-Mail. Besonders meinen Satz "nie wieder Laubach!" kritisierte er als sehr unprofessionell.
Und kurz darauf kam ich vom Regen in die Traufe: die Firma Dexion hatte doch noch weitere Arbeit für mich, die etwa zwei bis drei Monate dauern sollte. Da ich meine Zweitwohnung inzwischen aufgelöst hatte, wurde ich in ein Hotel einquartiert. Schlimmer konnte es für mich kaum kommen. Für jemanden, der seine Freizeit vor dem Fernseher oder vielleicht noch mit Joggen verbringt, mag das egal sein, aber ich habe zahlreiche Hobbies, die Platz und Werkzeuge benötigen oder zumindest einen einigermaßen brauchbaren Internetzugang, den es in dem Hotel auch nicht gab. Ich kam mir vor wie im Gefängnis und war heilfroh, als die Arbeit erledigt war.

Zeitarbeiter: immer professionell und flexibel!

Heidbrink hatte bereits einen neuen Arbeitsplatz für mich in Aussicht. Dieser lag aber noch weiter weg als Laubach und war noch erheblich umständlicher zu erreichen. Ich machte meinem Chef deutlich, dass ich die drei Monate im Hotel schon kaum zumutbar gefunden hatte und dass der neue Ort für mich erst recht nicht in Frage käme. Bei meiner Einstellung hatte er mir noch gesagt, dass ich auch mal eine Arbeitsstelle ablehnen könnte, aber davon wollte er jetzt nichts mehr wissen. Andere Kollegen würden mit großer Freude ein ganzes Jahr im Hotel wohnen, meinte er und warf mir vor, unprofessionell und unflexibel zu sein. Ich verließ das Büro mit der Kündigung in der Hand.
Professionell und flexibel – zwei Wörter, die ich jetzt zu hassen gelernt hatte. Als Zeitarbeiter ist man offensichtlich nicht nur finanziell ein Spielball der Willkür, sondern man muss sich hin und her schieben lassen wie eine Schachfigur. Flexibel sein heißt, sein ganzes Privatleben der Arbeit unterzuordnen, seine kostbare Freizeit als völlig wertlos zu betrachten und bereit zu sein, einen beliebig großen Teil davon für den Weg zum und vom Arbeitsort zu verwenden. Und professionell sein heißt, dies alles völlig selbstverständlich hinzunehmen und jede Zumutung kritiklos zu schlucken.
Noch während ich in Laubach arbeitete, hatte ich ein hochinteressantes Stellenangebot bei der Europäischen Zentralbank in Frankfurt entdeckt und meinen Chef darauf aufmerksam gemacht. Dieser hatte versucht, mich dort unterzubringen, allerdings erfolglos.
Umso erstaunter war ich, als ich einige Zeit später das gleiche Stellenangebot wieder fand, diesmal über eine Zeitarbeitsfirma namens Wüppelmann (Name geändert). Ich nahm sofort Kontakt auf, hatte ein sehr gutes Vorstellungsgespräch und bekam tatsächlich diese Stelle. Auf meine Frage, warum es damals mit Heidbrink nicht geklappt hatte, bekam ich zu hören, dass die wohl zu viel Geld erwartet hatten.

Tarifverträge, Willkür und Zwang zum Lügen

Wüppelmann zahlte immerhin ein akzeptables Gehalt, aber inzwischen hatte ich mir doch viele Gedanken über Zeitarbeit gemacht und begann, mehr und mehr zu hinterfragen. Besonders die Höhe meines Gehaltes fand ich mehr als fragwürdig. Früher als Bauingenieur war für mich der Tarifvertrag der IG Bau-Steine-Erden relevant gewesen. Dort war genau geregelt, in welche Tarifgruppe ich eingeordnet werden musste, abhängig von meiner Ausbildung, der Art meiner Arbeit und dem Maß von Eigenverantwortung. In einer Tabelle konnte ich nachschauen, wie hoch mein Gehalt aufgrund meiner Tarifgruppe, meines Alters und der Dauer meiner Firmenzugehörigkeit zu sein hatte, und richtig: haargenau diese Summe wurde mir monatlich ausgezahlt. Bei Wüppelmann wurde ich gemäß eines nebulösen Dienstleistertarifs allein nach meiner Ausbildung eingruppiert, woraus sich ein geradezu lächerliches Gehalt ergab. Dieses wurde von Wüppelmann durch einen freiwilligen Zuschlag auf einen akzeptablen Betrag aufgestockt. Wieder war ich ein Spielball der Willkür: weder konnte ich den freiwilligen Zuschlag irgendwie hinterfragen oder kontrollieren, noch konnte ich meine Eingruppierung in den Tarifvertrag beeinflussen. Und selbst wenn ich hätte zeigen können, dass ich in eine höhere Tarifgruppe gehöre, wäre mir sicherlich der Zuschlag (ein Gnadenakt, für den ich vermutlich dankbar zu sein habe) entsprechend gekürzt worden.
Besonders grotesk und eigentlich eine Frechheit war ein Dokument, das ich zu unterschreiben hatte. Damit sollte ich mich einverstanden erklären, dass im Falle einer Tariferhöhung mein freiwilliger Zuschlag im gleichen Umfang vermindert wird. Das heißt: wenn die Tarifpartner übereinkommen, dass ich mehr Geld erhalten soll, wird mir trotzdem keinen Cent mehr als vorher ausgezahlt. Ich machte deutlich, dass ich damit auf keinen Fall einverstanden war. Aber die Möglichkeit, die Unterschrift zu verweigern, war offensichtlich nicht vorgesehen. Ich unterschrieb, obwohl mein "Einverständnis" eine glatte Lüge war.
Im Grunde genommen war mir klar, dass ich wieder mal arbeitete, um andere Leute reich zu machen. Aber in welchem Maße, das bleibt Betriebsgeheimnis. Eigentlich wäre es fair und gerecht, wenn das Geld, das eine Zeitarbeitsfirma vom Auftraggeber erhält, nach dem jeweiligen Arbeitsaufwand verteilt würde. Angenommen, die Zeitarbeitsfirma benötigt eine Stunde pro Woche, um mich zu verwalten, während ich pro Woche 40 Stunden arbeite, dann müsste ich 97,5% der monatlichen Summe erhalten (denn das Geld habe ich ja schließlich eigenhändig erarbeitet) und die Zeitarbeitsfirma behält lediglich 2,5% für sich. Aber ich kenne den Betrag nicht, ich kann nichts nachrechnen oder überprüfen.
Ich weiß nur eins: ich komme morgens zur Arbeit und arbeite erst mal für die Zeitarbeitsfirma. Irgendwann schlägt eine unsichtbare Uhr, und erst ab dann fließt der Lohn für meine Arbeit wirklich in meine eigene Tasche. Das mag um 10, 11 oder vielleicht sogar erst um 12 Uhr geschehen – wer weiß? Diese deprimierende Ungewissheit gehört zum Alltag eines Zeitarbeiters. Die Arbeit bei der EZB war hochinteressant, es ging überwiegend um Datenverarbeitung, aber auch um Bauzeichnungen. Mein Chef war sehr nett und umgänglich, er ließ mit völlig freie Hand, auf welche Weise ich meine Arbeit erledigte, ihn interessierte nur das Ergebnis. Ich schrieb mehrere Programme, die meine Arbeit automatisierten und erheblich beschleunigten. Alle waren sehr zufrieden mit mir, und auch mit meinen Kollegen verstand ich mich gut.

Zeitarbeiter unterlaufen ihren eigenen Schutz

Der Gesetzgeber hatte Zeitarbeit auf eine Dauer von 11 Monaten begrenzt, die um weitere 11 Monate verlängert werden konnte. Dann war Schluss. Meine Arbeit war jedoch noch lange nicht erledigt, und meine Vorgesetzten waren sich einig, dass ich mich erneut bewerben sollte. Das war auf der einen Seite sehr erfreulich, aber auf der anderen Seite hatte ich erhebliche Probleme damit. Warum gab es diese Begrenzung? Weil der Gesetzgeber verhindern will, dass jemand so lange Zeitarbeit macht. Wenn jemand so lange gebraucht wird, dann soll er auch direkt eingestellt werden und nicht nur ausgeliehen werden. Ein direkter Vertrag war aber keineswegs zu erwarten. Das heißt: mit einer erneuten Bewerbung würde ich die Gesetze, die mich vor allzu langer Zeitarbeit schützen sollten, selbst und aktiv unterlaufen. Es bedeutete im Grunde genommen, jegliche Selbstachtung aufzugeben und so tief zu sinken, dieses widerliche System der Ausbeutung eigenhändig zu unterstützen!

Noch mehr Willkür statt "Equal Pay"

Und dennoch tat ich es, denn die Arbeit machte Spaß, die Arbeitsumgebung war erstklassig, und die Kollegen unterstützen mich. Ich bekam sogar den Tipp, mich bei der Firma Langdamm (Name geändert) zu bewerben, weil die besser zahlen. Und so kam es auch. Mit Verblüffung sah ich, dass ich plötzlich monatlich fast 200 Euro mehr in der Tasche hatte – für exakt dieselbe Arbeit wie vorher. Unter dem Tarifvertrag der IG Bau-Steine-Erden wäre das unmöglich gewesen, aber hier war es so, dass allein schon die Wahl der Zeitarbeitsfirma Einfluss auf die Höhe meines Gehaltes hatte. Nichts mit "equal pay", nichts mit "gleiches Geld für gleiche Arbeit". Was für unfassbare Zustände mitten in Europa im 21. Jahrhundert! Ich rechnete zurück: dadurch, dass ich mich zu Anfang bei Wüppelmann beworben hatte, hatte ich insgesamt mehr als 4.000 Euro verschenkt. An wen? An die EZB oder Wüppelmann oder an beide? Ich werde es nie erfahren.
So vergingen weitere 22 Monate, und im Sommer 2017 sollte endgültig Schluss sein, die Gesetze ließen keine weiteren Möglichkeiten der Verlängerung zu. Aber irgendwie wurde erreicht, dass die Verträge von allen Zeitarbeitern noch einmal bis zum Jahresende verlängert werden konnten. Gleichzeitig wurden unsere Stellen öffentlich ausgeschrieben. Ich bewarb mich selbstverständlich, denn es winkte ein direkter und somit äußerst lukrativer Vertrag bei der EZB.

Zeitarbeiter werden ausgegrenzt

Vorher fand aber noch ein Team Building Event statt. In der Abschluss-Veranstaltung lag ein langes Seil in weiten Kurven auf dem Fußboden. Es sollte den Weg ins Jahr 2019 darstellen. Ich fühlte mich wie vor den Kopf geschlagen. Wie sollte ich an das Jahr 2019 denken, wenn ich noch nicht mal wusste, ob und wo ich im Jahr 2018 arbeiten werde? Dieses Seil schien uns Zeitarbeiter zu verhöhnen "wir machen unsere Pläne ohne euch, ihr gehört nicht dazu." Für mich war das kein Team Building Event gewesen, sondern ein Team Separating Event.

Endlich voll bezahlter Mitarbeiter

Zum Glück sah die Praxis anders aus: das Team funktionierte doch wunderbar. Ich bekam riesige Unterstützung von meinen Kollegen und von meinen Vorgesetzten, um meine Bewerbung optimal zu verfassen und um mich auf meine Interviews vorzubereiten, nachdem meine Bewerbung angenommen worden war. Dennoch kostete es ungeheuer viel Geduld und Nerven, bis die letzten Hürden genommen waren und ich endlich meinen lang ersehnten Vertrag in den Händen hielt.
Ohne diese Unterstützung hätte ich das alles nicht geschafft. Und dennoch muss ich sagen: alles kam mir wie eine riesige Farce vor. Bei meinem ersten Interview hatte ich wirklich zeigen müssen, welches Wissen und welche Fähigkeiten ich mitbringe, wie ich Probleme anpacke etc. Jetzt aber war es plötzlich viel wichtiger, dass meine Antworten gewissen Strukturen folgten. Die Fragen, die wirklich meine tägliche Arbeit betrafen, waren so einfach, dass ich mich eher veralbert fühlte als gefordert. Die schwierigen Fragen jedoch drehten sich um allgemeine Datenbankstrukturen und berührten meine tägliche praktische Arbeit nur theoretisch und höchstens am Rande. Außerdem war es ungeheuer wichtig, den großen Teamplayer darzustellen, obwohl meine Arbeit eigentlich alles andere als Teamarbeit war. Aber egal – es war mir trotzdem gelungen, mich bei den Interviews erfolgreich zu präsentieren.
Ein völlig neues Leben begann für mich, es war ein Unterschied wie Tag und Nacht. Die roten Zahlen, in die mein Bankkonto immer wieder am Monatsende geraten war, entschwanden bereits nach dem ersten Gehaltseingang in weite Ferne. Einen Monat später stand ich in einem Laden, drehte mich einmal um mich selbst und dachte: eigentlich könnte ich alles kaufen, was ich sehe – nur noch mein eigener Wille entscheidet, nicht mehr mein Bankkonto.
Netto ausbezahlt bekam ich etwa das 2,5-fache wie vorher. Wenn ich aber jeweils die monatlichen Fixkosten (Wohnungsmiete, Lebenshaltung etc.) abziehe und allein den Rest betrachte, den ich für Anschaffungen, Hobby, Urlaub und Vergnügungen übrig hatte, dann erhöhte sich dieser Rest auf mindestens das 5-fache! Ich bekam so unglaublich viel Geld – und machte doch genau die gleiche Arbeit wie die vier Jahre zuvor. Dieses Geld entsprach offensichtlich dem Wert meiner Arbeit, sonst hätte ich ja weniger bekommen, denn es ist wohl kaum anzunehmen, dass die EZB etwas zu verschenken hat. Das heißt, ich war vier Jahre lang ganz erheblich unterbezahlt worden.
Nach einem Jahr begann ich, Pläne für mein Leben als Rentner zu schmieden – Pläne, von denen ich vorher nicht zu träumen gewagt hatte. Unter anderem buchte ich eine Reise in den Pazifik zu den Inseln Mikronesiens, die bisher für mich unerreichbar gewesen waren...

Bilanz Zeitarbeit: einen Porsche verschenkt!

Ende Mai 2019 war dann mein allerletzter Arbeitstag gekommen. Ich zog Bilanz und rechnete so genau wie möglich die Differenzen hoch: hätte ich diesen Vertrag gleich zu Anfang bekommen, hätte ich heute sage und schreibe mindestens 150.000 Euro zusätzlich auf dem Konto! Damit könnte ich z.B. locker einen Porsche 911 Carrera 4S Cabriolet bezahlen. Oder gleich sechs Exemplare des Mercedes A 200. Das ist der Wert der Arbeit, die ich geleistet habe, ohne sie vergütet zu bekommen. Diese 150.000 Euro wurden vermutlich (ich werde es niemals erfahren) zu einem Teil von der EZB eingespart und zu einem Teil an die Zeitarbeitsfirmen ausgezahlt.
Wer fährt jetzt mit dem Mercedes herum, den ich für ihn erarbeitet habe?


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