Abenteuer im Kolovesi-Nationalpark

Karte des Nationalparks

"Finnland ist langweilig", hörte ich vor vielen Jahren mal von einem Urlauber, "alles nur grün und blau." Sicher, was die Farben betrifft, mag er Recht haben, aber ihm fehlte offenbar das Auge für die Formenvielfalt. Jeder See, jede Bucht, jede Insel sieht doch anders aus als alle anderen! Der Oulujärvi zum Beispiel hat riesige, fast inselfreie Wasserflächen, während der Kolovesi mit seinen angrenzenden Seen fast vollständig von zwei riesigen Inseln ausgefüllt ist. Das Besondere an diesen beiden Inseln sind die zahlreichen langen, engen Buchten, in denen die Saimaa-Ringelrobben ihre Jungen gebären und aufziehen.

Die Saimaa-Ringelrobbe (in Finnland "Norppa" genannt) gehört zu den wenigen Süßwasserrobben auf der Erde und entstand vor vielen tausend Jahren, als geologische Veränderungen ihr die Verbindung zur Ostsee abschnitten. Weil es heute nur noch wenige hundert Exemplare gibt, steht sie unter strengstem Schutz. Aus diesem Grunde wurde 1990 auch der Kolovesi-Nationalpark eingerichtet. In den Gewässern um die besagten zwei Inseln herum darf man nur mit Ausnahmegenehmigungen Motorboot fahren, viele Uferzonen dürfen überhaupt nicht betreten werden, und im Frühjahr darf man auch nicht in die Buchten hineinfahren. Leider gibt es ein paar weiße Flecken auf der Karte: nicht nur ein Bauerngehöft, sondern auch noch eins der allgegenwärtigen Sommerhäuser musste aus der Fläche des Nationalparks ausgespart werden.

Im Sommer 1998 wurde ich in der Jugendherberge "Pohjantaival" bei Heinävesi durch einen Prospekt auf den Kolovesi- Nationalpark aufmerksam. Und da das Wetter gut war und ich sowieso nichts Besseres vorhatte, beschloss ich spontan, die Kolovesi-Gewässer zu besegeln, um vielleicht einen Norppa vor die Linse zu bekommen. Ich hatte ja wie immer mein zusammenklappbares Segelboot dabei. Und glücklicherweise auch noch die Seekarte, mit deren Hilfe ich einige Jahre zuvor durch den Linnansaari-Nationalpark gesegelt war und die auch das Gebiet des Kolovesi beinhaltete.

Nachdem ich meine Lebensmittelvorräte für die nächsten Tage ergänzt hatte, stattete ich erst einmal dem "offiziellen" Startpunkt (1) des Nationalparks einen Besuch ab. Dort herrschte gähnende Leere. Kein Wunder, denn nicht nur die besagten Buchten, sondern auch der wichtigste Zeltplatz liegt viel zu weit davon entfernt. Als nächsten Punkt hatte ich mir die Zufahrtsstraße (2) ausgesucht. Man findet sie leicht, indem man dem Schild "Kirkkoranta" folgt. Hier standen mehrere Autos, die mit Dachträgern für Boote ausgestattet waren, offensichtlich ein beliebter Ausgangspunkt für Paddeltouren. Trotzdem besichtigte ich auch noch den Punkt (3), der sich aber nicht besonders eignet, weil das Gelände zwischen dem Ende des Weges und dem Wasser ziemlich unwegsam ist. Ein Jahr später schaute ich mir auch die Punkte (4) und (5) an, diese sind aber nur mit einem Traktor zu befahren bzw. mit einem Schild "Privat! Boote einsetzen verboten!" versehen - und man will sich ja nicht unbeliebt machen. Der Leser, der den Kolovesi-Nationalpark befahren möchte, sollte sich also zwischen Punkt (1) und (2) entscheiden, weitere Erkundungen sind unnötige Mühe.

Ich fuhr also zum Kirkkoranta, klappte mein Boot auseinander, baute die Bänke ein, schraubte alles Zubehör an, lud das für die nächsten Tage notwendige Gepäck ein und segelte los. Der Wind war ganz brauchbar, und so kam ich gegen Abend beim Zeltplatz an. Dieser zeigte sich allerdings völlig überfüllt. Wo auch immer der Raum zwischen den Bäumen es erlaubte, war ein Zelt hingequetscht. Kurzentschlossen segelte ich weiter auf die andere Seite der kleinen Bucht. Hier fand ich bald eine flache Stelle (A), wo ich mein Zelt aufbauen konnte. Denn das umliegende Ufer gehört ja nicht zum Nationalpark, und hier gilt das Jedermannsrecht, das das Übernachten erlaubt, solange man niemanden stört.

Der nächste Morgen brachte nur schwachen Wind mit sich. Ich segelte gemächlich zwischen den Inseln hindurch und verbrachte am gegenüberliegenden Rand des Nationalpark ziemlich viel Zeit, um wieder einen Zeltplatz zu finden. Gegen Abend hatte ich dann eine hervorragende Stelle gefunden: eine stille Bucht, die mich vor neugierigen Blicken schützte, mit reichlich ebener Fläche für mein Zelt. Eine Feuerstelle bewies, dass ich nicht der Erste war, der diesen schönen Platz (B) entdeckt hatte.

Ich beschloss, hier auch noch eine weitere Nacht zu verbringen. Deshalb ließ ich am nächsten Tag mein Zelt einfach stehen und segelte zwischen den Inseln hindurch bis zum Kolovesi, immer in der Hoffnung, einen Norppa zu sehen, doch leider vergebens. Wenigstens konnte ich das schöne Wetter und die herrliche Landschaft genießen.

Lagerfeuer
Der Kapitän am Lagerfeuer

Am Abend zündete ich wegen der Mücken ein Feuerchen an, kochte mein Abendessen und fing an zu speisen. Währenddessen schwamm etwas am gegenüberliegenden Ufer an mir vorbei, was unablässig hohe Schreie ausstieß. Ich vermutete ein paar Wasservögel, die ich nicht weiter beachtete, sie wollten wohl im Uferschilf übernachten.

Fischotter
Fischotter

Doch plötzlich bemerkte ich, wie die Tiere an Land gingen und sich als recht große Vierbeiner entpuppten! Glücklicherweise hatte ich meine Videokamera und mein Stativ griffbereit, sodass ich alles aufbauen konnte, ohne mich viel bewegen zu müssen. Es war schon ziemlich dämmerig, aber das Licht reichte noch, um die Tiere zu filmen, die am Ufer hin und her wuselten und dabei immer weiter diese hohen Schreie ausstießen. Schließlich verschwanden sie im Wald und gaben Ruhe. Ich hatte keine Ahnung, was ich dort gesehen hatte, bis ich jemandem das Video zeigte, der mir sagen konnte, dass es sich um Fischotter handelte! So war ich in freier Natur Tieren begegnet, die man wahrhaftig auch nicht alle Tage zu Gesicht bekommt. Oder in Anlehnung an ein Sprichwort: lieber ein Fischotter auf Videoband als ein Norppa unter Wasser!

Mein Zeltplatz
Mein Zeltplatz

Am nächsten Morgen nahm ich wieder Kurs zurück zum Auto. Der Wind war sehr schwach, hin und wieder musste ich sogar rudern. Während ich mal wieder von einer leichten Brise bewegt wurde, näherte sich von hinten ein Kanu mit zwei Insassen, die offensichtlich auf deutsch über ihren Kurs diskutieren. Als sie mich eingeholt hatten, begrüßten sie mich mit der Frage "Bist du zufällig im Internet?" Ich bejahte. "Dann haben wir deine Homepage gesehen mit dem Reisebericht über den Inari-See!" An meinem Segelboot hatten sie mich erkannt. Sie kamen aus Leipzig und hatten sich im Internet über Finnland erkundigt. Als sie in einer Suchmaschine das Stichwort "Wasserwandern" eingegeben hatten, wurden sie auf meinen Reisebericht hingewiesen, den ich vor einigen Jahren auch in der Kipinä veröffentlicht hatte. Dann die unvermeidliche Frage, die im Kolovesi-Nationalpark jeder jedem stellt: "Hast du Robben gesehen?" "Nein." "Wir auch nicht." Die beiden waren sehr enttäuscht, bis ich dainter kam, dass sie richtige große Robbenkolonien erwartet hatten! Als ich ihnen erklärte, dass die Saimaa-Robben eher Einzelgänger seien, akzeptierten sie schon eher, dass sie vergeblich Ausschau gehalten hatten.


Im Sommer 1999 war ich wieder in dieser Gegend und beschloss, noch einmal mein Glück zu versuchen - vielleicht kommt mir ja diesmal eine Robbe vor die Linse. Nachdem ich viel Zeit vergeudet hatte, einen Einsetzpunkt zu finden, der dicht an meinem "privaten" Lieblingszeltplatz liegt, startete ich wieder am "Kirkkoranta". Es war schon recht spät, und die schwache Brise brachte mich nicht weit. So suchte ich das Ufer einer kleinen Bucht ab, bis ich ein Plätzchen (C) für mein Zelt fand.

Hier gab es sogar ein paar Blaubeeren, die ich mir für mein Müsli pflücken konnte. Wegen des trockenen Frühjahrs waren Blaubeeren in diesem Jahr nämlich sehr selten geworden - aus dem gleichen Grunde allerdings auch die Mücken, sodass ich mich über die Trockenheit doch nicht richtig ärgern mochte. Der Wind hatte nun deutlich zugelegt. Zuerst segelte ich in die gegenüberliegende lange Bucht hinein, leider ohne einen Norppa zu Gesicht zu bekommen. Ich bestieg noch den Ukonvuori, dann nahm ich Kurs auf den offiziellen Zeltplatz, wo ich am späten Nachmittag eintraf. Diesmal war ich völlig allein und konnte mir den ebensten Platz für mein Zelt aussuchen. Erst während ich mein Abendessen verzehrte, legten noch drei Finnen mit Kajaks an. Die bekannte Standardfrage ergab, dass auch sie keine Robben gesehen hatten.

Am nächsten Tag wehte der Wind noch stärker. Einige Wellen zeigten sogar schon Schaumkronen. Beim Ablegen bekam ich leider etwas Wasser in meinen linken Gummistiefel. Während in die nächste Bucht hinein segelte, zog ich den Stiefel aus und ließ ihn trocknen. Es war ein harter Kampf, denn ich musste ständig gegen den Wind kreuzen, der fast genau aus der Bucht heraus wehte. Eine Bö riss mir meine Mütze vom Kopf. Es gelang mir mit einem halbwegs professionellen Mann-über-Bord-Manöver, die Mütze aus dem Wasser zu fischen. Ich knotete sie zum Trocknen am Mast fest, dann ging die Fahrt weiter. Hin und wieder wechselte der Wind auch noch kurzzeitig die Richtung, vielleicht weil er von den nahen Waldkanten der nur 150 bis 200 Meter breiten Bucht umgelenkt wurde. Nach zwei Stunden hatte ich endlich das Innere der Bucht erreicht. Von Robben keine Spur. So kehrte ich um und segelte wieder zum Ausgang der Bucht zurück.

Eindrücke aus dem Kolovesi-Nationalpark

Nun hatte ich Rückenwind. Ich ließ mein Segel voll nach Steuerbord hinausdrehen und band es in dieser Stellung fest. Mit selten erlebter Geschwindigkeit sauste mein Boot dahin. All die Mühen des Hinwegs waren vergessen. Ich saß auf der Backbordseite, um dem Winddruck ein Gegengewicht zu bieten, genoss die mühelose Fahrt und filmte sogar hin und wieder mit der linken Hand die brausende Bugwelle, während ich mit der rechten Hand steuerte. Als ich wieder einmal die Kamera auf dem Boden meines Bootes abgelegt hatte, geschah es! Eigentlich hatte ich es voraussehen müssen, aber wie gesagt, hatte ich die Erfahrungen des Hinwegs längst aus meinem Gedächnis verbannt. So war ich völlig überrumpelt, als urplötzlich der Wind drehte, von der falschen Seite das Segel erfasste und dieses nach Backbord umschlug. Dort blieb es fast mittschiffs hängen, weil ich es ja festgebunden hatte, und bot die volle Fläche dem Wind, der das Boot unverzüglich nach Backbord kippte. Und da ich auf Backbord saß, half ich durch meinem Gewicht auch noch mit, das Boot umzukippen. Dies alles dauerte etwa eine Sekunde. Ehe ich auch nur daran denken konnte, das Segel loszubinden, um die Gefahr abzuwehren, fand ich mich strampelnd unter Wasser wieder. Mein erster Gedanke war: erstaunlich warm! Das nur sechs Meter tiefe Wasser hatte sich wohl in der sehr heißen Vorwoche gut aufgeheizt und sich in dieser langen, engen Bucht nicht mit dem kalten Wasser von draußen vermischen können. Ziemlich schnell kam ich wieder an die Oberfläche und stieß erst einmal ein paar laute Flüche aus. Dass mir so etwas passieren musste! Was für gefährliche Situationen hatte ich schon gemeistert in den 9 Jahren, die ich das Boot besitze. Und nun hatte es mich doch erwischt...

Irgendwie überlegte ich keine Sekunde. Es war völlig klar: das Boot musste ans Ufer! Verboten oder nicht, das war jetzt egal. Nun, der linke Stiefel war längst versunken, also gab es keinen Grund mehr, den rechten zu retten. Ich strampelte ihn mir vom Fuß. Dann zog ich den Mast aus seiner Halterung, damit das Segel nicht unnötig bremst, nahm die Vorderleine des Bootes zwischen die Zähne und versuchte, an Land zu schwimmen. Ziel war das östliche Ufer, das vielleicht 50 Meter entfernt lag. Während meine Arme mit dem Wasser kämpften, dachte mein Gehirn schon über die Zukunft nach: vielleicht war die Steuerrückzahlung für das Vorjahr ja schon auf meinem Konto angekommen, und jetzt gab es doch schon die Videokameras mit digitaler Aufzeichnung, aber um solche Filme optimal mit meinem Computer schneiden zu können, müsste ich mir spezielle Hardware kaufen, und ob mein Geld dafür reichen würde? Ob der Leser es nun glaubt oder nicht, aber dies waren tatsächlich meine Gedanken, während ich im Wasser strampelte.

Nun - wer mich kennt, weiß, dass ich mit Sport nichts am Hut habe. Deshalb besitze ich ja auch ein Segelboot und kein Kanu. Und beim Sportunterricht in der Schule, wo ich beim Schwimmen immer zu den Letzen gehörte, hatte ich die Überzeugung gewonnen, dass diese Fortbewegungsart wirklich die unrationellste ist, mit der ein Mensch von A nach B gelangen kann. Jedenfalls stellte ich fest, dass ich doch ziemlich viel Wasser schlucken musste. Auch wenn es sauberstes finnisches Süßwasser war - so ging es einfach nicht weiter. Ich ließ also das Seil fahren und schwamm erst mal allein ans Ufer. Dort war das erste, mein Handy zu öffnen und den Akku herauszunehmen, um Schaden im Gerät zu vermeiden. Als zweites legte ich meine Digital-Armbanduhr ab, die verblüffenderweise noch funktionierte, auch wenn sie als nur "water resist" gekennzeichnet ist. Dann zog ich Parka, Hose und Hemd aus und hängte alles über einen Baum.

Nun zurück zum Boot! Es ragte zu meiner Verwunderung mit dem Bug weit aus dem Wasser heraus, dahinter dümpelten meine schwimmfähigen Habseligkeiten, die vom Wind allmählich abgetrieben wurden. Das Boot besteht aus leichtem Kunststoff, doch sollte es eigentlich flach liegen und dicht unter der Wasseroberfläche "schweben". Beim Boot angekommen, erkannte ich, woran es lag: unter der Vorderbank klemmten noch die dort verstauten Müllsäcke mit meinem Schlafsack und meiner Isomatte, die den Bug über Wasser hielten. Meine nächste Idee war, das Boot in eine waagerechte Lage zu bringen, um es leichter an Land schleppen zu können. Ich nahm also den Müllbeutel mit der Isomatte, klemmte ihn mir unter die linke Achsel und versuchte, das Heck des Bootes an die Wasseroberfläche zu heben. Dies gelang mir aber nicht. Das Boot schien mir zu schwer zu sein, und außerdem verhedderte ich mich immer wieder mit den Beinen in irgendwelchen Leinen, sodass ich viel kostbare Zeit verwenden musste, um meine Beine zu befreien. Schließlich ließ ich das Boot so wie es war, nahm wieder die Vorderleine zwischen die Zähne und schwamm nun zur anderen Seite, denn der Wind schien das Boot dichter an das westliche Ufer getrieben zu haben. Die Isomatte unter der Achsel verhinderte diesmal, dass ich Wasser schlucken musste. Stück für Stück kämpfte ich mich näher, das senkrecht schwimmende Boot folgte mir nur sehr unwillig. Meine Kaumuskeln schmerzten schon lange, als ich endlich Felsen unter den Füßen spürte. Ich kletterte an Land und zog mühsam das Boot hinauf, wobei das meiste Wasser schon hinausfloss. Durch Umkippen des Bootes beseitigte ich den Rest.

Nun hieß es, das Boot wieder startklar zu machen. Die Ruder waren weg, also blieb nur Segeln übrig. Das Segel war immer noch am Boot festgebunden - Gottseidank, denn sonst hätte der Mast es wohl auf den Grund gezogen. Ich löste alle Leinen, setze den Mast wieder ein und befestigte das Segel. Zuerst kreuzte ich die Bucht, um auf der anderen Seite Kleider, Uhr und Handy abzuholen. Mir war bei dem starken Wind doch recht kalt geworden, und ich hoffte, dass wenigstens mein Hemd schnell trocknen würde. Dann fielen mir meine anderen Habseligkeiten wieder ein, doch ich konnte sie nirgends mehr erblicken. Entweder waren sie untergegangen (die Mülltüten waren ja nur als Regen- und Spritzwasserschutz gedacht), oder sie waren davongeschwommen. Tja... also zurück zum Auto!

Nach kurzer Zeit entdeckte ich meine Kühlbox, die es geschafft hatte, obwohl sie ihren Deckel verloren hatte, zum westlichen Ufer zu schwimmen. Ich legte an und lief von dort etwa jeweils 100 Meter in beide Richtungen am Ufer entlang, wobei ich noch meine Seekarte und einen Rudergriff fand. Dann segelte ich weiter aus der Bucht heraus. Vielleicht hätte ich noch die gegenüberliegende Insel absuchen und weiter nach links fahren sollen, um weitere Habseligkeiten zu finden, aber all dies hätte mich weiter von meinem Auto weggebracht und Zeit gekostet, und mir wurde allmählich kalt. Auch wenn mein Hemd inzwischen getrocknet war - gegen den starken Wind schützte es kaum, und den nassen Parka mochte ich nicht anziehen. Also segelte ich auf dem kürzesten Weg zu meinem Auto zurück. Immerhin konnte ich verblüffenderweise kurz hinter dem Ausgang der Bucht noch meine Kameratasche aus dem Wasser fischen; ihre Schaumgummipolster hatten sie so weit schwimmen lassen.

Als ich um die nördliche Landspitze gebogen war, hieß es wieder kämpfen. Der Wind war so stark wie nie zuvor, und ich musste die ganze Strecke gegenan kreuzen. Besonders bei den Wenden zeigten sich die Grenzen des Bootes. Für die "Landratten" unter den Lesern: man kann mit einem Segelboot etwa bis 45 Grad gegen den Wind segeln. Wenn man dann zu nah ans Ufer kommt, muss man wenden: den Kurs um 90 Grad drehen, damit der Wind aus 45 Grad von der anderen Seite kommt. Während dieser Drehung fährt man zweitweise genau gegen den Wind, das Segel ist nutzlos, und nur der eigene Schwung bringt das Boot durch diese Drehung. So weit die Theorie! Mein leichtes Boot hatte aber einfach nicht genug Masse, der starke Wind bremste es sofort ab, und die Wendemanöver gelangen oft erst nach mehrfachen Versuchen. Aber auch die normale Fahrt zwischen den Wenden war äußerst beschwerlich. Der Wind pfiff über die Schaumkronen der Wellen, die ein geradezu bösartiges Zischen hören ließen, er zerrte am Segel, das sich stark aufblähte und kaum noch in optimale Stellung zu bringen war, und er verbog immer stärker die dünnen Aluminiumstangen, die das Segel aufspannten. Und so hart ich auch kämpfte - diese Arbeit war keine, von der man warm wird. Ich verkroch mich, so gut es ging, hinter der niedrigen Bordwand und klapperte mit den Zähnen. Endlich, nach vier langen Stunden, kam ich bei meinem Auto an und zog mein Boot aufs Ufer. Ich hatte zwar meine Wohnungsschlüssel verloren (ob im Wasser oder als ich meine Hose über den Baum hing, weiß ich nicht), aber ich hatte immerhin noch den Autoschlüssel. Nicht auszudenken, wenn ich auch diesen verloren hätte...

Jetzt nichts wie trockene Sachen anziehen! Doch halt, was war das? Etwas Weißes klemmte hinter dem Scheibenwischer. Oha, hätte ich hier nicht parken dürfen? Nein, es kam ganz anders: in einer Plastiktüte steckte eine Visitenkarte mit der Mitteilung "Wir haben ein Sommerhaus ganz in der Nähe, ruf uns mal an, Conny & Klaus" und eine Handynummer. Freunde aus Hannover hier ganz in der Nähe, meine Rettung! Es war nämlich schon recht spät, und die nächste Jugendherberge war weit. Wenn ich dort die Leute nicht wecken wollte, hätte ich auf das Abendessen verzichten und direkt hinfahren müssen, während aber ein riesiges Schnitzel in der Shell-Tankstelle von Savonlinna meinem knurrenden Magen sehr gut getan hätte. Dieses Dilemma war durch die Einladung aus der Welt geschafft - wenn nur mein Handy funktioniert hätte! Gerade wenn man es am nötigsten braucht...

Ich zog also frische Sachen an, baute mein Boot auseinander, lud alles in bzw. auf das Auto und fuhr erst mal nach Enonkoski. Kurz nach 21 Uhr kam ich dort an. Bei der einzigen Telefonzelle handelte es sich natürlich mal wieder nur um ein Kartentelefon. Aber zum Glück war der Kiosk nebenan noch geöffnet. Ich kaufte eine Telefonkarte, rief Conny an und lud mich ohne viel zu erklären zum Übernachten ein. Conny beschrieb mir den Weg, den ich nicht zuletzt dadurch leicht fand, dass Klaus mir schon entgegen gefahren kam. Während ich von meinem Abenteuer berichtete, wurde ich erst einmal ordentlich verpflegt. Conny haute sogar extra für mich ein paar Eier in die Pfanne. Dann wärmte ich mich gründlich in der Sauna auf, die Klaus nach meinen Anruf angeheizt hatte, ohne zu ahnen, wie nötig ich sie jetzt brauchte. In den See vor der Sauna sprang ich allerdings nicht, davon hatte ich erst einmal genug! Anschließend verteilte ich meine nassen Sachen im Saunavorraum. Dazu gehörten neben dem Handy auch Schlafsack und Isomatte, die trotz Mülltüten etwas nass geworden waren.

Nach dem ausgezeichneten Frühstück gab es einiges zu organisieren. Mein Handy verweigerte immer noch die Arbeit, also lieh ich mir Connys Handy aus und setze dort meine Chipkarte ein, sodass meine Telefonate auf meine Rechnung gingen. Vor allem ging es um meinen Wohnungsschlüssel. Ich hatte meinem Nachbarn einen gegeben, der würde aber selbst in den Urlaub fahren, bevor ich nach Hause komme, und vorher den Schlüssel in meine Wohnung legen. Dies durfte jetzt nicht geschehen! Ich rief deshalb meinen Bruder an, der zu meinem Nachbarn fuhr und dort meinen Schlüssel abholte. Nachdem dies und noch einiges andere erledigt war, verabschiedete ich mich dankbar von Conny und Klaus. Damit war das Abenteuer erst mal so weit überstanden.

Eigentlich hatte ich doch recht viel Glück gehabt. Ich hatte zwar viel verloren: Videokamera, Stativ, Zelt, Kocher, Rasierer und noch andere Kleinigkeiten, das Handy blieb irreparabel - aber immerhin hatte ich meine Spiegelreflex-Ausrüstung im Auto gelassen, mein Autoschlüssel war noch da, das Wasser war warm und das Ufer nahe genug gewesen, um mich retten zu können, und mir selbst war nichts passiert. Und was mich am meisten geärgert hätte, war auch nicht eingetreten: wenn es mir tatsächlich gelungen wäre, einen Norppa zu filmen, und wenn diese kostbaren Aufnahmen danach unwiederbringlich in den Fluten versunken wären...

Und was waren jetzt die Grenzen meines Bootes? Ich war bislang der Meinung gewesen, dass starker Wind nichts ausmacht (wenn man aufpasst!), nur hohe Wellen seien gefährlich. Nach einigen vergeblichen Versuchen, etwas herauszufinden, hatte ich Erfolg auf den Internetseiten des Finnischen Meteorologischen Instituts. Ein sehr hilfsbereiter Mitarbeiter beantwortete meine Fragen sehr ausführlich per E-Mail. Ihm lagen alle Wetterdaten der Station Savonranta vor. Demnach herrschte dort an dem Tag, als ich kenterte, eine Windstärke von 5 bis 6, in Böen bis 7, bei einer Lufttemperatur von 18 Grad.

Nun, inzwischen ist alles überstanden. Der Hersteller meines Bootes hat mir die abhanden gekommenen Teile kostenlos ersetzt, und im Gegenzug habe ich ihm kostenlos eine Homepage gebastelt, damit seine Firma nun auch im Internet präsent ist. Und meine neue Videokamera ist sowieso viel besser als die alte!


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