Finnisch ist schwierig – ein Vorurteil?

Seit über 30 Jahren beschäftige ich mich mehr oder weniger ernsthaft mit der finnischen Sprache (zugegeben: meist weniger). Ich möchte mich nicht als Experten bezeichnen, aber da ich jetzt seit über zwei Jahren in Finnland wohne und arbeite, möchte ich doch mal meine Erfahrungen veröffentlichen.

Denn ich sehe immer wieder Kollegen, die nicht das geringste Interesse zeigen, mehr als "yksi-kaksi-kolme" und vielleicht noch "huomenta" zu lernen – mit dem Argument "15 Fälle? Um Gotteswillen, das ist mir zu schwierig!" Dabei gibt es in der finnischen Grammatik viele Dinge, die viel einfacher sind als bei anderen Sprachen, und die echten Probleme liegen ganz woanders. Dies möchte ich mit diesem Artikel beleuchten.

Finnisch und Deutsch

Ehrlich gesagt, ich bin froh, dass ich nicht Deutsch lernen muss. Die deutsche Sprache hat mehr als 200 unregelmäßige Verben (ohne Ableitungen, das heißt, "laufen" wird gezählt, aber "ablaufen" oder "auslaufen" nicht). Und dann all die vielen Ableitungen, wo minimale Veränderungen einem Verb einen völlig anderen Sinn geben: vergeben, abgeben, zugeben, begeben (ich begebe mich zu...; es begab sich, dass...), ergeben (die Summe ergibt...; ich ergebe mich), angeben (prahlen; eine Angabe machen), aufgeben (eine Aufgabe erteilen; etwas zu Schwieriges abbrechen)... ebenso stehen, bestehen, entstehen, gestehen, verstehen und so weiter... das muss doch jeden Schüler zur Verzweifelung bringen! Dann die Substantive, die nicht nur drei verschiedene Geschlechter haben, sondern auch eine reichlich undurchsichtige Pluralbildung: aus "Gras" wird "Gräser", aber aus "Gas" wird "Gase", also mal wird der Vokal zum Umlaut und mal nicht.

Wie einfach ist dagegen Finnisch: keine Geschlechter, keine Unregelmäßigkeiten, klare Pluralbildung!

Die einzige Ausnahme bilden die Substantive, die auf -i enden und zwei Silben haben. Bei vielen endet der Vokalstamm auf -e (hiiri – hiiren), bei vielen bleibt jedoch das i (lasi – lasin). Diese Wörter muss man sich halt merken. Und sechs bestimmte Adjektive, die ausnahmsweise nicht dekliniert werden. Aber das ist eigentlich schon alles. Bei allen anderen Wörtern kann man bereits aus der Grundform klar erkennen, auf welche Weise sie dekliniert bzw. konjugiert werden müssen.

Finnisch und Latein

Latein ist bekanntlich bestimmt keine einfache Sprache. Trotzdem machen jedes Jahr Hunderttausende ganz selbstverständlich das Latinum. Um es gleich zu sagen: Finnisch ist mit Latein absolut nicht verwandt. Trotzdem gibt es ein paar Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten.

Beide Sprachen haben eine verschwindend kleine Zahl von Ausspracheregeln. In wenigen Minuten lernt man, die jeweilige Sprache korrekt auszusprechen. Was vielleicht für Deutsche das Schwierigste ist: die deutschen Ausspracheregeln komplett zu vergessen. "eu" wird nicht wie "oi" ausgesprochen, "ei" nicht wie "ai" und "ie" nicht wie "ii". Ansonsten muss man beim Finnischen nur darauf achten, das e (ein normales ä) und das ä (ein sehr offenes ä) deutlich zu unterscheiden, sonst wird es schwierig mit der Verständigung.

Man kann sich also voll auf die Grammatik konzentrieren, und diese hat bei beiden Sprachen einen hohen Stellenwert. Beide Sprachen verlangen detektivisches Vorgehen: Sätze und Wörter müssen Stück für Stück auseinandergenommen und analysiert werden. Wobei Finnisch noch mehr als Latein eine Art "Baukastensprache" ist, das heißt, jedes Wort kann aus mehreren Bausteinen bestehen, und eine relativ geringe Anzahl von Bausteinen ergibt durch verschiedene Kombinationen eine hohe Anzahl von verschiedenen Wörtern. Dazu unten mehr. Daneben hat Finnisch ein entfernt ähnliches System mit Deklinations- und Konjugationstypen wie Latein.

Wer bereits Latein gelernt hat, ist klar im Vorteil, da ihm diese analytische Vorgehensweise bereits vertraut ist. Andererseits bringen ihm Lateinkenntnisse direkt nichts. Während man bei Latein immer wieder auf bekannte Wörter trifft, weil es im Deutschen ähnliche Fremdwörter gibt, kommen einem die finnischen Wörter absolut fremdartig vor. "Yleinen tie päättyy" steht auf dem Schild am Straßenrand und verursacht nur Kopfschütteln angesichts der vielen Äs und Ys und Doppelbuchstaben. Da muss man halt durch...

Trotzdem – wenn ich daran denke, wie ich mich mit Latein abgequält habe, dann kann ich wirklich sagen: schwieriger als Latein ist Finnisch auch nicht!
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Aus-
sprache
Beugungs-
typen
Stamm-
formen
Endun-
gen
Vokal-
harmonie
Stufen-
wechsel
 

Finnisch – eine Pyramide

Irgendwo habe ich mal gelesen, dass man Sprachen wie eine Pyramide betrachten kann. Englisch ist dabei eine Pyramide, die auf der Spitze steht. Das bedeutet, dass der Anfang sehr einfach ist, aber je höher man kommt, desto breiter wird die Pyramide und desto komplizierter wird die Grammatik. Finnisch ist dagegen eine "normale" Pyramide. Unten ist die breite Basis, das bedeutet: man muss eine ganze Menge Grundbausteine kennen, bevor man überhaupt richtig anfangen kann. Bevor man zum Beispiel ein Substantiv benutzen kann, muss man bereits wissen, welchen der 15 Fälle man anwenden möchte, welche Endung dieser Fall hat, welche Stammform für diese Endung anzuwenden ist, zu welchem Deklinationstyp das Substantiv gehört, wie bei diesem Deklinationstyp die eben genannte Stammform abgeleitet wird und welcher Stufenwechsel sich aus all diesen Dingen ergibt. Das ist sehr viel Theorie für den Anfang! Doch je weiter man in die Grammatik vordringt, desto einfacher wird es, denn diese Grundbausteine trifft man immer wieder. Zum Beispiel lernt man zuerst, dass der Illativ eine Ortsveränderung "in etwas hinein" bedeutet. Später stellt man fest, dass der gleiche Fall auch zeitlich "bis zu einem Zeitpunkt" verwendet wird, und am Ende bildet man damit auch Nebensätze "um ... zu machen". Man lernt also nur noch neue Anwendungen und Kombinationen von bereits Bekanntem, braucht sich aber immer weniger neue Endungen und Konstruktionen zu merken.

Dies ist auch der Unterschied zu den lateinischen Deklinations- und Konjugationstypen: während im Lateinischen zu jedem Fall je nach Deklinationstyp verschiedene Endungen gehören, hat im Finnischen jeder Fall unabhängig vom Deklinationstyp immer die selbe Endung. Bei den Typen geht es nur um bestimmte Stammveränderungen: aus der Grundform muss man den Vokalstamm und den Konsonantstamm ableiten können, zusätzlich bei Nomina den Pluralstamm und bei Verben den Passivstamm. Bei vielen Wörtern sind die Stämme jedoch gleich, und viele Nomina haben überhaupt keinen Konsonantstamm. Also maximal drei Stämme pro Typ (und natürlich das Merkmal, an dem man den jeweiligen Typ erkennt), mehr gibt es nicht zu lernen.

Mut zur Lücke

Wer zum ersten Mal unvorbereitet eine Liste der finnischen Deklinations- und Konjugationstypen anschaut, wird förmlich erschlagen. Die kürzeste Liste, die ich kenne, umfasst 39 Deklinations- und 29 Konjugationstypen. Die längste Liste, bei der die Typen noch feiner unterschieden werden, ist etwa doppelt so groß. Aber anders als beim Lateinischen muss man diese gar nicht alle kennen. Jeweils etwa 10 Typen genügen, um die häufigsten Wörter anwenden zu können. Und bei diesen 10 Typen ist vieles gleich, sodass es gar nicht so viel zu lernen gibt. Bei vielen Substantiven ist der Vokalstamm identisch mit dem Nominativ, die Unterschiede zwischen den Deklinationstypen kommen oft erst bei der Pluralbildung zum Vorschein. Auch bei den Konjugationstypen genügt es eigentlich für den täglichen Gebrauch, wenn man den Vokalstamm bilden kann. Die übrigen Stammformen kann man getrost erst mal außer Acht lassen und auf irgendwann später verschieben.

Auch beim Stufenwechsel muss man längst nicht alle Formen kennen, einige kommen ziemlich selten vor.
   
Pysäköinti
vain paikan
varanneille!
       
 


Ganz besonders gilt das für die komplizierten Partizipkonstruktionen, mit denen Finnen das, was im Deutschen einen ganzen Nebensatz ausfüllt, in ein einziges Wort pressen können. Es ist überhaupt nicht nötig, solche Tricks zu beherrschen, denn wir wollen ja keine ausgefeilten Zeitungsartikel schreiben. Es kann zwar wichtig sein, Partizipkonstruktionen zu erkennen (zum Beispiel wird auf diesem Schild "Parken nur für diejenigen, die einen Platz reserviert haben!" mit Hilfe von nur vier Wörtern ausgedrückt), aber wenn man selbst spricht oder schreibt, kann man genau so gut auch einen ganzen Nebensatz formulieren, wie man es vom Deutschen her gewohnt ist.
 
1NominativSubjekt
2GenitivZugehörigkeit
3AkkusativObjekt
4PartitivObjekt (auch Subjekt)
5Inessivin etwas drin
6Elativaus etwas heraus
7Illativin etwas hinein
8Adessivbei etwas
9Ablativzu etwas hin
10Allativvon etwas weg
11EssivZustand
12TranslativVeränderung
13Instruktivmit Hilfe von etwas
14Abessivohne etwas
15Komitativmit etwas
 

15 Fälle? Oh Schreck!

Das wird von vielen Leuten als Haupthürde angesehen – ist es aber gar nicht! Schauen wir uns doch die Liste mal genauer an: da gibt es Nominativ, Genitiv und Akkusativ, die kennen wir schon. Dann der Partitiv, ein ähnlicher Objektfall wie der Akkusativ (allerdings zugegebenermaßen nicht gerade einfach in der Benutzung). Dann sechs Fälle, die Orte bzw. Ortsveränderungen ausdrücken: wo, wohin, woher... eigentlich eine simple Sache. Etwas exotischer sind drei Fälle, die Zustände, Veränderungen und Instrumente ausdrücken, diese kann man aber erst mal ruhig ignorieren, weil sie nicht allzu oft vorkommen. Bleiben noch zwei Fälle übrig, und diese braucht man eigentlich gar nicht, weil man stattdessen auch die Wörter "mit" und "ohne" benutzen kann. Ja, das ist schon alles!

Und mal ehrlich: wenn man gelernt hat, dass "talo" "Haus" bedeutet, macht es da einen Unterschied, ob man eine Präposition (im Deutschen "in") oder eine Endung (im Finnischen "-ssa") lernt? Ist "talossa" schwieriger als "im Haus"? Nein, eigentlich nicht! Im Gegenteil: in Deutschen gibt es "in" mit Dativ und "in" mit Akkusativ, ein wichtiger Unterschied. Und "in dem" wird zu "im" zusammengezogen. Das ist alles viel komplizierter als im Finnischen.

Der schwierigste Fall ist wie gesagt der Partitiv. Es gibt einige Regeln, wann man den Partitiv statt des Akkusativs benutzen muss, aber trotzdem kommt mir die Anwendung immer noch ziemlich undurchsichtig vor. Obendrein kann auch das Subjekt eines Satzes im Partitiv stehen. Aber dies ist für das Verständnis nicht so wichtig. Wenn man da Fehler macht, wird man trotzdem verstanden. Wir verstehen ja auch Berliner, selbst wenn sie "mir" und "mich" vertauschen.

Finnisch ist eine Baukastensprache

Finnisch funktioniert mit Endungen, und es ist kein Kunststück, mehrere Endungen zu kombinieren, um eine grammatikalische Beutung zu erhalten. Hängen wir zum Beispiel an das oben erwähnte "talossa" noch "-ni" an, erhalten wir "in meinem Haus".

Hinzu kommen noch eine Menge Endungen, die eigentlich nichts mit der Grammatik zu tun haben und die für die Wortbildung benutzt werden. Nehmen wir zum Beispiel "kirja" (Buch) und fügen die Endung "-in" an, die meistens ein Werkzeug kennzeichnet, dann erhalten wir "kirjain" (Buchstabe). Beide Wörter kann man jetzt wieder mit der Endung "-sto" erweitern, die immer eine Ansammlung kennzeichnet. Damit erhalten wir "kirjasto" (Bibliothek) und "kirjaimisto" (Alphabet).

Je mehr solcher Bausteine man kennt, desto besser gelingt es, die Bedeutung eines unbekannten Wortes zumindest näherungsweise zu erraten, ohne gleich das Wörterbuch benutzen zu müssen. Welche andere Sprache hat solch ein wunderbares System?

Wer anfängt, finnisch zu lernen, vermisst zuerst einmal bekannte Wörter. Das liegt daran, dass die Finnen Fremdwörter vermeiden. Vermutlich nicht aus prinzipiellen Gründen (Reinerhaltung der finnischen Sprache), sondern weil Fremdwörter für finnische Zungen oft schwierig auszusprechen sind, wenn sie zu viele Konsonanten enthalten, und weil die meisten Fremdwörter nicht in die finnischen Deklinationstypen einzuordnen sind. Zum Beispiel wird die schwedische Hauptstadt "Tukholma" genannt – es gibt nun mal kein finnisches Nomen, das auf -lm endet, und somit gibt es auch keinen Deklinationstyp dafür.

Dafür aber trifft man immer wieder auf die selben Wortbestandteile, die nur verschieden kombiniert werden. Der Finne sitzt vor der Nachrichten-Maschine, tippt auf die Finger-Werkzeug-Sammlung und schreibt eine Elektrizitäts-Post.

Finnisch hat doch seine Tücken

Das klingt nun alles so, als ob Finnisch doch recht einfach wäre. Aber es gibt immer wieder Klippen, die umschifft werden wollen. Und als eine von ihnen muss ich den Stufenwechsel bezeichnen.

Eigentlich ist der Stufenwechsel keine schwierige Sache. Durch Beugen eines Wortes verändert sich der Charakter einer Silbe, und wenn diese mit Konsonanten beginnt, die ein k, p oder t enthalten, dann tritt dort der Stufenwechsel auf. Da gibt es eine Reihe von Kombinationen zu lernen: aus tt wird t, aus t wird d, aus lt wird ll, aus nt wird nn – an sich nicht besonders schwierig: zum Beispiel wird der Singular "silta" (Brücke) zum Plural "sillat" (Brücken).

Das Vertrackte am Stufenwechsel ist jedoch der umgekehrte Weg: man hat ein unbekanntes Wort, das offensichtlich gebeugt ist, und muss daraus die Ursprungsform rekonstruieren. Und dafür gibt es keine Regeln, denn dieser "Rückweg" ist leider nicht eindeutig. Da kann man oft nur raten und verschiedene Wörter durchprobieren, die man bereits kennt. Zum Beispiel lässt sich bei den Wörtern "linnut" und "linnat" die Grundform nicht nach eindeutigen Regeln herleiten. Das erste Wort kommt von "lintu" (Vogel) und unterliegt bei der Pluralbildung dem Stufenwechsel. Das zweite Wort kommt jedoch ganz einfach von "linna" (Burg). Da gibt es kein t und somit auch keinen Stufenwechsel! Noch schlimmer ist das k, das oftmals einfach wegfällt. Als ich zum ersten Mal "märät jalat" hörte, musste ich lange über diese mir völlig fremden Wörter nachdenken, bis ich dahinter kam, dass beide Male ein k weggefallen war: die Pluralbildung von "märkä jalka" (nasser Fuß)!

Sisu

Das ist das bekannte Wort, das eine typisch finnische Eigenschaft beschreibt: Durchhaltevermögen. Und davon sollte man auch als Finnisch-Schüler reichlich besitzen. Damit "übersteht" man das vertrackte Fundament der Pyramide... und danach wird es immer einfacher. Wer mir das nicht glaubt, muss es halt selbst ausprobieren!

Rauma im April 2009 © Paul Lenz

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