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Wie alles begann

Eigentlich begann alles nicht heute, sondern viel früher, aber heute ist mein 53. Geburtstag und somit ein gutes Datum für den Anfang eines Internet-Tagebuches, was man heutzutage "Blog" nennt.

Eigentlich fing es damit an, dass mein früherer Chef mir kündigte, weil ich ihm zu teuer geworden war. Die immer kritischer werdende Situation auf dem Bausektor besonders in Norddeutschland hatte dazu geführt, dass selbst höher qualifizierte Bauingenieure sich für ein deutlich niedrigeres Gehalt um eine Stelle bewarben, als ich bekam. Ende 2004 war mein letzter Arbeitstag, und im Januar 2005 verbrachte ich meinen angesammelten Resturlaub auf einer herrlichen Südsee-Reise.

Dann begann meine Arbeitslosigkeit. Die Bedingungen waren nicht schlecht: durch meine lange Tätigkeit, mein letztes Gehalt und mein Alter standen mir 22 Monate Arbeitslosengeld von etwa 1400 Euro zu. Das ist zwar mehr, als so mancher durch harte Arbeit bekommt, aber etwa 1000 Euro weniger als zuvor, und das hieß dann doch sehr sparsam leben zu müssen.

So ging die Jobsuche los. Ich merkte bald, dass meine Situation sehr schlecht aussah. Während ich mich immer nur um technische Probleme gekümmert hatte (Zeichnungen und Berechnungen angefertigt, Geometrien und Konstruktionen ausgetüftelt usw.), wurden Bauingenieure in meinem Alter eigentlich nur noch für organisatorische Aufgaben gesucht: Kalkulatoren, Projektmanager, Niederlassungsleiter usw. - also Gebiete, auf denen ich keinerlei Erfahrung hatte. In der Zeitung nach einer Stelle zu suchen, gab ich bald auf. Meine Hauptquelle für Jobs wurde die Internetseite der Arbeitsagentur, wo ich deutschlandweit nach freien Stellen suchte. Die Ausbeute war mager, ich kam durchschnittlich auf ein bis zwei Bewerbungen pro Monat - und alle wurden abgelehnt.

Abgesehen davon genoss ich meine Arbeitslosigkeit in vollen Zügen. Das, was bisher das Kostbarste für mich gewesen war, hatte ich nun im Überfluss: Zeit! Kein Wecker mehr am Morgen und ein Tag voller Platz für eigene Ideen, es war einfach herrlich. Zeit genug, um mein Video von der Südseereise zu schneiden, Zeit genug für Projekte, die ich schon ewig vor mir hergeschoben hatte...

Das Bedauerlichste war eigentlich nur, dass Lin wieder nach Dänemark umzog. Sie hatte ebenfalls Ende 2004 ihre Stelle als Putzfrau in einer Schule verloren. Im Februar 2005 gingen wir zusammen zum Arbeitsamt. Sie hatte nun Anspruch auf sechs Monate Arbeitslosengeld, aber das waren nur etwa 100 Euro, und eine neue Stelle konnte ihr auch nicht vermittelt werden. Also zog sie die Konsequenzen: sie ließ sich wieder in ihrer früheren Heimatstadt Viborg registrieren, um dort Sozialhilfe zu kassieren: fast 1000 Euro - eine Summe, angesichts deren ich keine Argumente hatte, um sie zu überreden, in Hannover zu bleiben. Hauptgrund war allerdings der schlechte Gesundheitszustand ihres Ex-Mannes, dem Lin nicht mehr zutraute, sich ausreichend um ihren Sohn zu kümmern. Genug Geld für ihren Sohn zu haben und ihm täglich Essen zu kochen, war und ist nun mal das Wichtigste für Lin. Aber alle paar Wochen besuchte sie mich in Hannover. Dazwischen chatteten wir oft, Lin benutzte dazu einen Computer in einer Bibliothek.

So verging das Jahr 2005, und ich kam allmählich zu der Überzeugung, dass ich bis zu meiner Rente arbeitslos bleiben würde. Und das bedeutet, mich allmählich auf Hartz IV vorzubereiten. Ich studierte die betreffenden Paragraphen und gewann die Erkenntnis, dass ich bis Ende 2006 meine Eigentumswohnung in Laatzen beziehen musste, die ich bislang immer vermietet hatte. Ich erklärte meinen Mietern die Situation, und sie begannen, sich nach einer anderen Wohung umzuschauen.

Anfang Januar 2006 fand ich mal wieder eine für mich passende Stelle und bewarb mich. Es sollte darum gehen, Zeichnungen im Bereich Kraftwerksbau zu korrigieren und Materiallisten auf den aktuellen Stand zu bringen, deshalb war Erfahrung in AutoCAD gefragt und außerdem Englischkenntnisse. Herr W., der die Stelle anbot, schien aber nur als Vermittler aufzutreten: die Entscheidung über meine Einstellung lag nicht in seiner Hand, und bald wurde klar, dass ich mal wieder abgelehnt wurde.

Etwa gleichzeitig hatten meine Mieter eine Wohnung im Nachbarblock gefunden, die sie kauften. Schon im Februar 2006 zogen sie um. Das war mir eigentlich zu früh, denn für den Rest des Jahres konnte ich die Wohnung nicht neu vermieten, und selbst einzuziehen erschien mir noch zu früh, denn wenn ich doch noch eine Arbeitsstelle finden würde, würde diese wohl kaum in Hannover sein, und das hieße wieder umzuziehen. Aber meine Wohnung leer stehen zu lassen, war mir auch zu teuer, das konnte ich mir nicht leisten. Also kündigte ich meine Wohnung in der Friesestraße, in der ich 22 Jahre lang gewohnt hatte.

Nun begann ein umfangreiches Heimwerkerprogramm. Meine Wohnung war in einem hervorragenden Zustand, es gab eigentlich nichts zu renovieren, aber ich hatte doch ein paar Ideen, wie ich mein neues Zuhause umgestalten wollte, denn wenn ich darin etwa 10 harte Jahre unter Hartz IV bis zu meiner Rente überstehen musste, dann sollte wenigtens die Wohnung komfortabel und perfekt sein - und dafür hatte ich noch ein paar tausend Euro auf der hohen Kante, die ich jetzt gnadenlos ausgab. Ich zimmerte mir ein Schiebetürsystem zwischen Küche und Essecke, stattete die Küche mit einem Abluftkanal für die Dunstabzugshaube aus, versah die Essecke mit Wandverkleidungen, hinter der der Abluftkanal und die Kabel für eine zusätzliche Beleuchtung verschwanden (eine Art Flutlichtanlage, die das Kartenspielen für meine Doppelkopfrunde angenehm machen sollte) und kaufte obendrein ferngesteuerte Ventile, die während der Nacht vollautomatisch die Heizkörper abdrehen können. Außerdem ersteigerte ich bei Ebay sechs wunderschöne Esszimmerstühle, einen Herd mit Ceranfeld sowie für nur 1 Euro eine komplette Ausstattung mit Küchenmöbeln, ich musste mir nur eine neue Arbeitsplatte zuschneiden lassen. Meine Mieter hatten mir ihr ganzes Schlafzimmer und den Teppichboden geschenkt, den sie in meiner Wohnung verlegt hatten. Zwischendurch packte ich meine alte Wohnung in Umzugskartons, schraubte meine Möbel auseinander, brachte eine Unmenge Müll zur Deponie und zog Anfang März um, wobei mir viele Freunde halfen. Dann begannen drei stressige Wochen, in denen ich meine alte Wohnung komplett renovieren musste.

Unerwartet rief mich Herr W. an und fragte, ob ich noch zur Verfügung stand, er könnte mir wieder einen Arbeitsplatz mit der gleichen Beschäftigung anbieten. Natürlich sagte ich zu, aber ich wurde wieder abgelehnt.

Zuletzt zimmerte ich mir noch einen neuen Computertisch zusammen, der so weit höhenverstellbar war, dass ich auch im Stehen daran arbeiten konnte, wenn langes Sitzen meinen Rücken ermüdet hatte, und außerdem einen stabilen Ständer für meine Satellitenschüssel, um diese unsichtbar (anders war es nicht erlaubt) auf dem Balkon aufzustellen.

Anfang Juni war ich mit meiner Wohnung endlich zufrieden. Es war eine richtige Luxuswohnung geworden, perfekt ausgestattet. Sogar das Gästezimmer hatte einen (geschenkten) dreiteiligen Kleiderschrank bekommen: einen Teil hatte ich in eine kleine Elektronikwerkstatt verwandelt, einen Teil in eine Heimwerkerwerkstatt, und den dritten Teil ließ ich leer für Gäste. Nur an eins hatte ich mich noch nicht gewagt: das letzte Dutzend Umzugskartons auszupacken, in dem Bücher und anderer Kleinkram verstaut waren. Das hatte keine Eile, und ich wurde die Befürchtigung nicht los, dass das Auspacken sich als überflüssig erweisen könnte...

Jedenfalls nahte mein Geburtstag, und es war eine gute Gelegenheit, dieses Ereignis mit einer großen Einweihungsfeier zu kombinieren.

Inzwischen hatte Herr W. wieder angerufen... ja, ich stand immer noch zur Verfügung. Es sollte wieder der gleiche Job wie bisher sein, und diesmal in Finnland! Das war natürlich besonders sensationell. Und fast noch sensationeller war, dass Herr W. Mitte Juni meinte, dass es dieses Mal klappen könnte. Tatsächlich: ich wurde schließlich für den 23. Juni nach Offenbach zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Dort hat die Firma Areva eine Niederlassung - ja, es ging bei meinem Job um den Bau eines Kernkraftwerkes, und zwar um das neue finnische Kernkraftwerk, das auf der Insel Olkiluoto gebaut werden sollte. (Ich will nicht verschweigen, dass ich kein Freund der Kernenergie bin, aber die Finnen machen wenigstens einiges besser als wir Deutschen: sie karren ihren Atommüll nicht erst lange kreuz und quer durch Europa, sondern haben ein Endlager direkt vor Ort, und das ist tief in bestem Granit gebettet.)

Mein Termin ist also morgen in Offenbach frühmorgens um 7:00 Uhr, deshalb starte ich heute nachmittag mit dem ICE nach Frankfurt. Das Ticket habe ich von der Arbeitsagentur bekommen. Schon gestern habe ich meinen Gospelchor informiert, dass ich bei der freitäglichen Probe diesmal nicht dabei sein kann.

Ich hatte erst überlegt, bei Bekannten in Frankfurt oder Offenbach zu übernachten, aber ich wollte niemandem zumuten, mit mir zusammen um 5:30 Uhr aufstehen zu müssen, deshalb hatte ich mir im Internet eine relativ preiswerte Pension in der Nähe von Areva ausgesucht. Die Übernachtung soll 32 Euro kosten - ohne Frühstück! Aber das sind die Preise, die derzeit gezahlt werden müssen, denn Frankfurt und Offenbach sind voller Gäste, die sich die Fußball-Weltmeisterschaft anschauen wollen. In meinem winzigen Zimmer ist gerade Platz für ein Stockwerkbett, einen Tisch, einen Stuhl und einen Kühlschrank, auf dem ein Fernseher steht. Toilette und Dusche sind auf dem Flur.

Ich studiere noch den Busfahrplan an der Haltestelle gegenüber und esse in dem Chinarestaurant daneben. Dann gehe ich früh schlafen.